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42. Das Private ist politisch und das Politische ist ne Null-Nummer, wenn es nicht auch privat gelebt wird.

15. März 2017

Kreuzberg

Ich bin sehr froh, in Berlin Kreuzberg aufgewachsen zu sein und meine Sturm- und Drang-Phase auch gerade Ende der 60er und dann in den 70er Jahren dort verlebt zu haben, also mitten in West-Berlin – und das war damals für mich Kreuzberg – nicht in Berlin-Zehlendorf und erst recht nicht in einem schwäbischen Dorf, aber auch nicht auf einer norddeutschen Hallig.

Ich hatte das Glück, in diesem Stadtteil geboren und aufgewachsen zu sein, die Eltern hatten dort eine ‚Klitsche’, d.h. ihre klitzekleine Firma, ich bin über 30 Jahre nie aus dem Stadtteil weggezogen, ich kannte mein Kreuzberg, die Ruinen zum Spielen gleich gegenüber, meine Grundschule sowie später das Gymnasium mit dem größten Arbeiterkinderanteil, wie ich es als Schulsprecherin in meiner allerersten statistischen Erhebung errechnet habe.

Als Kind war mir der Jahn-Park für die ersten Rodelerfahrungen wichtig, später in der Pubertät zum Knutschen und als Mutter zum Rumfahren des Babys im Kinderwagen. Nachträglich habe ich erfahren, dass das Rausgehen bei Inversionswetterlage gar nicht gut war, weil die Schadstoffbelastung dem Baby eher geschadet als genutzt hat. Neben West-Berlin gab es ja noch den Ost-Teil der Stadt, dort wurden fast alle Wohnungen noch mit Kohle geheizt, schlecht an all den Tagen, an denen die Luft nicht nach oben abziehen konnte.

Kreuzberg war in meiner Kindheit als Stadtteil verrufen, viele schämten sich in den 50er Jahren, dort zu leben, die Nanynstraße in SO 36 galt es besonders kinderreich – dies war damals negativ besetzt – und dies lange vor dem Mauerbau und damit auch vor der Anwerbung von Migranten im Ausland.

„Wir wohnen vor dem Kanal!“

Wenn ich als kleines Mädchen durch den Sport oft in anderen Teilen der Stadt unterwegs war, so gab mir meine Mutter mit auf den Weg: Wenn dich jemand fragt, wo wir wohnen, dann sag schon, in Kreuzberg, aber füge hinzu: „vor dem Kanal“. Habe ich aber nie gemacht, ich habe nur stolz Kreuzberg gesagt. Aber eine gängige Antwort in den 50ern war nach meiner Nennung meines Stadtteils: „Ach da, wo der Willi die Miete mit dem Revolver kassiert.“ – Ah, ha, in so einem Stadtteil wohnte ich, na, das klang doch aufregend, fast wie ein Wildwest-Roman, da kann man doch nur stolz sein.

Kreuzberg in den 70er Jahren

Aber zurück zu den 70er Jahren: Da war Kreuzberg einfach stark, die Besetzung des Bethanien-Krankenhaus, also des ‚Georg-von-Rauch-Hauses’, die Gruppe ‚Ton-Steine-Scherben’, die so oft umsonst auf Veranstaltungen auftraten, dass sie dann nicht genug zum Essen in ihrem Kühlschrank hatten, das ‚Tommy-Weisbecker-Haus’, wo ‚Trebe-Jugendliche’ einen Unterschlupf finden konnten, die großen 1.Mai-Feste und all die anderen selbstorganisierten Aufbrüche in einer brüchigen bis kaputten Welt.

Ich bin froh, dass ich an diesem Ort in diesen Jahren gelebt habe.

Es war so viel Aufbruch, Zuversicht, dass wir jungen Leute etwas verändern können, nicht nur wir, sondern auch in der Tschechoslowakei, Frankreich, Italien und später auf der iberischen Halbinsel. Wir haben junge Schwarze und Weiße in den USA bewundert wie den heroischen Kampf kleiner Einheiten z. B. in Vietnam gegen übermächtige Feinde. Überall gab es Aufstände gegen scheinbar Übermächtige Verbände z. B. in Kuba und besonders in Südamerika. In Afrika konnten viele Staaten die Kolonialmächte abschütteln und beginnen, einen eigenen Weg zu gehen. Dies war eine unglaubliche Aufbruchsstimmung, die uns, mich eingeschlossen, auch manches, z. B. die ‚Roten Garden’ in China, verklären ließ.

Nicht alles war richtig, manches hat sich im Nachhinein als falsch oder sehr leichtsinnig herausgestellt – was ich gemacht oder gedacht habe. Aber das Gefühl, die Welt mit all den anderen verändern zu können, möchte ich nicht missen.

So habe ich auch mal heftig demonstriert wegen einer Explosion bei der Firma ‚Dynamit Nobel’ mit einigen Toten, doch diese schrecklichen Informationen lösten sich bald in Schall und Rauch auf. Auch damals gab es schon ‚fake news’, auch wir haben nicht immer sauber recherchiert.

Um was geht es heute?

Aber das Gefühl, die Welt verändern zu können, ist nicht erst in den Kohl- oder Merkeljahren verloren gegangen, es ist zudem ein weltweites Phänomen. Politiker schütten uns zu mit NonsensThemen, nicht der Rede wert, sie hier auch nur namentlich aufzuzählen. Zu den wirklich wichtigen Themen der Klimaveränderung und des Erhalts der Erde für uns Menschen gibt es zwar große Treffen von Staatsvertretern mit winzig kleinen Ergebnissen, die dem Ernst der Lage Hohn sprechen. Unzählige Themen wie z. B. zur Autobahn-Maut sollen uns ablenken von grundsätzlichen Fragen, wie z. B. die Frage nach der Ernährung der zunehmenden Weltbevölkerung.

Nach nationalistisch angehauchten – oder ist dieser Ausdruck zu schwach? – Politikern in Ungarn und Polen kommt dann auch noch ein Trump in den USA an die Macht, hätten wir uns das vor einigen Jahren vorstellen können?

Wenn ich auch den Hype um den EU-Politiker Schulz nicht nachvollziehen kann, so freue ich mich, dass sich plötzlich wieder mehr Menschen für die Politik interessieren, in demokratische Parteien eintreten, mehr junge Leute auf Veranstaltungen zu sehen sind.

In Frankreich ruft der Präsidentschaftskandidat Macron dazu auf, sich „jetzt auf das Wesentliche (zu) konzentrieren“, ein wenig konkretisiert er das auch: „Auf den Alltag, den jeder selbst beeinflussen könne, und auf die Perspektiven, die Zukunft.“ Auch wenn das sehr allgemein gehalten ist, das könnte ich auch unterschreiben, danach lebe ich.

Ich kann auch einen früheren Satz von ihm unterschreiben: „Ich glaube, wir müssen viele Dinge ganz anders machen.“

Nachtrag

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